Wie die Leistungsgesellschaft unser Stresslevel beeinflusst
Wir haben unsere Follower auf Instagram gefragt was sie im Alltag besonders stresst. Viele Antworten bezogen sich auf die Arbeit bzw. das Studium, unter anderem aufgrund des Zeitdrucks. Eine Antwort berührte uns besonders – „alles richtig machen zu müssen“. Hier habe ich direkt gedacht, dass dieses Gefühl bestimmt viele von uns haben. Gleichzeitig habe ich mich gefragt was denn eigentlich „richtig“ ist und wer das bestimmt. Im Austausch mit meiner Schwester kamen wir zu dem Schluss, dass die Wurzel dieses Gefühls in unserer Leistungsgesellschaft liegt.
Schule und Stress
Bereits in der Schule, wenn nicht sogar schon im Kindergarten, haben wir mit Bewertungssystemen zu tun. Wir bekommen gesagt, was falsch und was richtig ist. Wir werden bereits als Kinder bewertet und uns wird ein richtiges oder falsches Verhalten zugeschrieben. Sätze wie, „das macht man so nicht“ oder „bist du dumm“ oder „stell dich nicht so an“ oder „warum kannst du das denn nicht“, sind unheimlich prägend. Sie setzen ein bestimmtes Verhalten voraus, welches mit den Wörtern richtig oder falsch verknüpft ist.
Gerade in der Schule fallen solche Sätze häufig und die Schüler*innen werden in ein defizitorientiertes Bewertungssystem gepresst. Anstatt sie stärkenorientiert zu fördern. Fehler sind nicht erwünscht und negativ konnotiert. Ich arbeite nun seit 6 Jahren als Schulsozialarbeiterin in einer Realschule und kann gar nicht mehr zählen wie oft ich Herabsetzungen, Beleidigungen oder Grenzverletzungen durch Lehrkräfte bei Schüler*innen erlebt habe. Der Satz „bist du dumm?“ gehört quasi zu meinem Alltag und macht den Großteil an Beschwerden aus.
Schüler*innen haben nicht mehr das Gefühl von Selbstwirksamkeit und wenig Möglichkeiten der Orientierung. Sie sind schon derart im Bewertungssystem gefangen, dass sie dieses „Feedback“ (wenn man das so nennen kann) in Form von Noten und Bewertung durch die Lehrkräfte brauchen, um ihre „Leistung“ einordnen zu können. Bereits hier sind wir schon im Wirkungskreis unserer Leistungsgesellschaft. Denn auch unter Schüler*innen steigt der Alltagsstress und es gibt sogar Schüler*innen die unter Burnouts leiden. Der schulische Leistungsdruck und oft auch die elterliche Erwartungshaltung, die oft aus der Sorge resultiert, dass aus dem Kind nichts werden könne ohne gute Schulnoten, führen zu massivem psychischen Stress bei den Kindern.
Beispiel aus dem homeschooling
Besonders die Homeschooling-Situation hat die Abhängigkeit der Kinder von den Bewertungen der Lehrkräfte nochmal deutlich hervorgehoben. Ein Beispiel aus dem Alltag: ein guter Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwäche gibt sich besonders viel Mühe für einen Aufsatz in Ethik. Diese Aufgabe wurde von der Lehrkraft online gestellt. Auf eventuelle Rückfragen wird nicht reagiert. Nach viel Mühe sendet der Schüler seinen Aufsatz ab und wartet gespannt auf eine Rückmeldung der Lehrkraft. Nach einigen Tagen erhält er über das Schulportal seine Note. Eine 4. Ohne weiteren Kommentar oder Erklärung. Auf seine Nachfrage wie die Note zustande gekommen sei, erhält er keine Rückmeldung. Auf den Einwand meiner Kollegin, seine Mutter mit einzubeziehen, reagiert er verdrossen und sagt, dass dies ja eh nichts bringen würde.
Traurig, aber wahr. Lehrkräfte haben so viel Einfluss. Es gibt wirklich Lehrer*innen die sich wahnsinnig viel Mühe geben und dann gibt es leider auch Einige, die nur Noten verteilen und sich darüber hinaus nicht mit den Schüler*innen beschäftigen. Noch viel trauriger finde ich aber, dass die Schüler*innen so darauf angewiesen sind und sich über Noten und Bewertungen definieren und kategorisieren lassen. Gleichzeitig aber auch das Gefühl haben nichts „dagegen“ machen zu können und kein Recht auf (Er-)klärung zu haben.
Arbeit und Stress
Nach der Schule geht es direkt weiter. In einigen Bundesländern wurde sogar das Abitur nach dem 12. Schuljahr eingeführt, damit die Schüler*innen der Gesellschaft früher als Arbeitskraft zur Verfügung stehen. Es geht weiter mit Ausbildung oder Studium. Wer sich eine Auszeit nimmt, auch nur um sich zu orientieren, wird komisch angeschaut und als faul angesehen. Arbeit hat einen unheimlich hohen Stellenwert, gerade hier in Deutschland. Wer nicht arbeitet ist faul und gehört nicht wirklich dazu. Arbeitslos zu sein ist absolut nicht anerkannt und führt sogar oft zur gesellschaftlichen Ausgrenzung.
Unsere Leistungsgesellschaft treibt uns sogar so weit, dass es auch wünschenswert ist, krank auf die Arbeit zu gehen und teilweise sogar ein Wettbewerb entsteht, wer kränker arbeiten geht. Hier hat die Corona-Pandemie gegebenenfalls einen positiven Effekt, weil wir so gelernt haben aufgrund von Symptomen zu Hause zu bleiben um andere nicht anzustecken. Eigentlich hätten wir das bereits vorher machen sollen, um uns selbst zu schützen und auszukurieren, anstatt krank arbeiten zu gehen. Mit der Digitalisierung und der ständigen Erreichbarkeit hat auch die Erwartungshaltung von Arbeitgebern zugenommen. Immer erreichbar sein, auch wenn man krank ist oder Urlaub hat. Das ist nicht nur arbeitsrechtlich völlig daneben, sondern auch respektlos. Arbeitgeber*innen haben eine Fürsorgepflicht und sollten nicht noch zu mehr Stress beitragen, gerade wenn Mitarbeiter*innen krank sind oder eigentlich frei haben. Die Erwartung von dauerhafter Hochleistung kommt noch hinzu.
Alles richtig machen
Das Gefühl „alles richtig machen zu müssen“ entsteht nach meinem Empfinden aus unserer Sozialisation heraus. Die Schule, die Gesellschaft und auch die Wirtschaft prägt uns in diese Richtung. Doch ich denke, das ist alles andere als gesund und löst bei uns allen einen unheimlichen Stress aus. Stress macht krank. Eigentlich kontraproduktiv für unsere Wirtschaft und den Anspruch von „höher – besser – weiter“. Es gibt mittlerweile sogar Modelle, in denen wir aufgrund der Digitalisierung zukünftig eher weniger Arbeit haben und uns auf eine geringere Wochenarbeitszeit einstellen könnten. In anderen Ländern wird sich darauf bereits eingestellt bzw. auch schon praktiziert. Hier möchte ich Dir gerne Gerald Hüther und Richard David Precht empfehlen. Zwei wirklich inspirierende Personen, die sich gerade zu den Themen Bewertung und Arbeit äußern und sich damit auseinandersetzen.
Wie willst Du leben?
Also wie wollen wir eigentlich leben? Wollen wir alles richtig machen und alle Erwartungshaltungen der Gesellschaft erfüllen? Wollen wir viel und krank arbeiten gehen nur um ein funktionierendes Gesellschaftsmitglied zu sein? Ich für meinen Teil kann sagen – Nein. Das möchte ich nicht und ich möchte die Gesellschaft sogar dahingehend verändern und mehr Akzeptanz dafür schaffen, dass es auch anders geht. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen, könnte uns dabei helfen stressfreier zu leben und auch der Tätigkeit nachzugehen die uns Spaß macht und nicht der, die am meisten Geld einbringt.
Wir leben nicht um zu arbeiten, sondern gehen arbeiten, um unser Leben zu finanzieren. Was bringt uns viel Geld, wenn wir keine Zeit haben es auszugeben? Was bringt uns harte und anstrengende Arbeit, wenn sie unsere Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt? Meine Gesundheit wurde unter anderem durch beruflichen Stress beeinträchtigt. Ich habe eine Störung der Schilddrüsenfunktion entwickelt, die besonders durch Stress so verstärkt wurde, dass ich mittlerweile ohne Schilddrüse lebe. Auch mein Asthma und meine Neurodermitis verstärken sich durch Stress. Denn auch ich habe immer wieder das Gefühl alles richtig machen zu müssen.
Achte auf dich und deine Bedürfnisse
Mein Umgang damit besteht aus verschiedenen Methoden. Ich mache Yoga und Hula Hoop. Ich achte auf meine Ernährung und besonders darauf, dass es mir gut geht. Wenn ich krank bin, neige ich oft dazu trotzdem zu arbeiten oder mich nur zwei Tage krank zu melden, obwohl eigentlich eine Woche notwendig wäre. Daran arbeite ich noch und versuche mich dann zu fragen, was passiert wenn ich nicht arbeiten gehe. Meistens kann ich die Frage mit „nichts“ beantworten und mich unbesorgt krank melden. Auf das von der Leistungsgesellschaft geprägte Gefühl „alles richtig machen zu müssen“, antworte ich mit der Frage „was ist für dich richtig – gerade in diesem Moment?“. Achte dabei nicht auf andere und deren Erwartungen, sondern nur auf dich. Ich hoffe mit diesem Beitrag kann ich Impulse setzen für mehr Achtsamkeit, weniger Stress und vor allem weniger Leistung und mehr Gesellschaft. Betrachte lieber die Qualität statt die Quantität.
Grünsame Grüße
Nadja