Spaltung der Gesellschaft – Achtsamkeit vs. Cancel Culture
Wir leben in schwierigen Zeiten für unsere Gesellschaft. Corona, Krieg und Klimawandel – drei globale Probleme, die gesellschaftlich viel diskutiert werden und uns alle auf die eine oder andere Weise beschäftigen. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich mich dazu positionieren möchte, aber nur ein Diskurs kann dazu beitragen in der Gesellschaft etwas zu verändern oder zumindest zum Nachdenken anzuregen. Es gab in den letzten Jahren immer polarisierende Themen wie z.B. die Wahl von Trump, die Schweinegrippe, der Rechtsruck und noch viel mehr – doch irgendwas ist anders…. Ich kann es nicht genau definieren, deswegen spreche ich von meinem Gefühl und meinem persönlichen Eindruck.
Corona
Es fühlt sich an als sei die Gesellschaft, insbesondere durch die Corona-Pandemie, ängstlicher, ich-bezogener und verurteilender als vorher. Die Pandemie verlangt einiges von uns ab. Nicht nur dass wir unsere Kontakte einschränken, dass wir Maske tragen und auf Abstand gehen müssen und liebe Menschen nicht so behandeln können, wie wir es gerne würden – kommt dann noch hinzu dass wir uns gegenseitig diffamieren, Meinung absprechen und Entscheidungen verurteilen und andere Menschen deswegen canceln, ignorieren und aus unserem Leben streichen. Menschen werden ausgeschlossen, Familien streiten, Freundschaften enden und das alles nur aufgrund von unterschiedlichen Meinungen. Ja ich spreche vom Impfen. Vorne weg: ich bin geimpft. Und ich sage gleich dazu, dass ich das Gefühl habe das sagen zu müssen, damit dieser Artikel weitergelesen wird, ich nicht als Querdenker abgestempelt und gecancelt werde. Ich sage auch dazu, dass ich genau das extrem schade finde und mich dabei auch nicht gut fühle.
Ich gehöre als Asthmatikerin zur Risikogruppe und muss regelmäßig Medikamente nehmen. Trotzdem war ich nicht unbedingt überzeugt von der Impfung, auch weil ich um viele Nebenwirkungen bei z.B. meinen Asthma-Medikamenten weiß, die schon lange erprobt sind. Ich hatte Angst. Angst vor dem Virus, aber auch vor der Impfung. Angst meine Freiheit und Grundrechte zu verlieren und Angst vor gesellschaftlicher Spaltung und Schwarz vs. Weiß oder Gut vs. Böse-Denken. Nach einer langen Abwägung meiner Ängste habe ich mich für die Impfung entschieden und auch für den Booster. In meiner Familie sind nicht alle geimpft, manche geboostert und manche zweifach geimpft und das ist OK.
Denn wichtig ist die individuelle Entscheidung und auch die Freiheit „nein“ sagen zu können und zu dürfen. Ich möchte mir über eine Entscheidung, die in einen der persönlichsten Lebensbereiche (eigene Gesundheit) fällt, kein Urteil bilden. Denn ich möchte auch nicht, dass jemand für mich diese Entscheidung trifft. Hier bleibe ich bei mir und entscheide achtsam für mich selbst. Achtsamkeit bedeutet dann auch, dass mein Umfeld das gleiche Recht der achtsamen Entscheidung für sich selbst hat und ich diese akzeptieren muss. Das Argument, dass es Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen wollen und der damit verbundene Vorwurf fehlender Solidarität, hinkt für meinen Geschmack. Denn wo fangen Vorschriften im Sinne anderer Menschen und gesamtgesellschaftlicher Solidarität an und wo hören sie auf? Werbung für Alkohol, Zigarettenkonsum in der Öffentlichkeit, klimaschädliches Konsumverhalten, Autofahren – klingt nach What Aboutism, aber den Topf musste ich kurz aufmachen, um die Tragweite deutlich zu machen. Grundrechte an eine Impfung zu knüpfen ist der erste Schritt in eine Gesellschaft, in der ich nicht leben möchte. Dann sind es nämlich auch keine Grundrechte mehr, denn diese gelten für alle – unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Alter und eben auch Gesundheitsstatus.
Ich möchte nicht den Sinn von Impfungen und auch nicht die Bedrohung durch Pandemien in Frage stellen, sondern darauf aufmerksam machen in welche Richtung wir uns bewegen, wenn wir solche Unterschiede machen. Wo bewegen wir uns hin, wenn wir Ängste von Menschen belächeln, sie beschimpfen und ausgrenzen, statt ihnen diese Ängste durch einfühlsame und wissenschaftsbasierte Diskussionen zu nehmen? Angst ist immer irrational und kann oft auch nicht mit Rationalität begegnet werden. Empathie und Verständnis sind da viel wichtiger. Und selbst die Menschen, die sich dann auch nicht impfen lassen wollen, haben das Recht diese Entscheidung zu treffen und sollten aufgrund dieser Entscheidung nicht ausgegrenzt werden. Die s.g. Cancel Culture ist in den letzten Jahren immer präsenter geworden und wird überwiegend in sozialen Medien praktiziert und ist gleichzusetzen mit dem Entzug von Aufmerksamkeit. Übersetzt wird der Begriff z.B. mit Lösch- oder Zensur-Kultur. Mit Ausgrenzung tragen wir dazu bei, dass die Gesellschaft mehr und mehr auseinander driftet und extreme, politische Strömungen immer mehr Chancen haben zu wachsen.
Der Begriff „querdenken“ ist auf einmal negativ behaftet. Querdenken war bis Corona ein positiv konnotierter Begriff. Um die Ecke denken, Dinge kritisch hinterfragen, reflektieren und diskutieren sind Bestandteile einer Demokratie und einer stetigen Entwicklung. Nur durch stetige Kommunikationsprozesse können sich Dinge verändern, in Gang gebracht und neu entwickelt werden. Doch seit der Pandemie scheint es nur richtig oder falsch zu geben. Und folgst du der falschen Meinung, gehörst du nicht mehr dazu.
Ich erinnere mich noch an eine Zeit in der ich im Freundeskreis einige Menschen hatten, mit denen ich oft nicht einer Meinung war. Kommt vor, wenn Sozialpädagogin auf Wirtschaftswissenschaftler trifft. Doch trotzdem gab es Austausch, Freundschaft und gute Diskussionen. Manchmal konnten wir uns gegenseitig überzeugen, Kompromisse finden oder wir waren uns einig, dass wir uns uneinig sind und haben zusammen ein Bier getrunken. Warum ist es heute nötig, dass alle einer Meinung sind? Wie langweilig oder? Fehlen dann nicht die Perspektivwechsel und alles wird zu einem Einheitsbrei? Und noch viel schlimmer: jahrelange Freundschaften gehen kaputt, Familien streiten sich und das nur wegen eines Impfstatus oder einer anderen Meinung? Hat der Impfstatus bei den anderen Schutzimpfungen denn vorher auch so viel gewogen, dass eine Freundschaft daran zerbricht? Schade, traurig, beängstigend und alles andere als achtsam, oder?
Ukraine-Krieg
Krieg in der Ukraine ist ein weiteres Thema bei dem deutlich wird wie sehr wir in das Schwarz-Weiß-Denken gerutscht sind.
Waffen liefern = gut und pro Ukraine.
Waffen nicht liefern = böse und pro Putin.
Das scheint der mediale Tenor zu sein und auch im Freundes- und Bekanntenkreis traue ich mich oft gar nicht mehr meine Meinung dazu zu äußern. Mittlerweile bin ich auch dazu übergegangen meine Meinung auf einige, wenige Standpunkte zu beschränken und möchte dazu sagen, dass ich oft einfach nicht genug weiß, um mich dazu tiefgehend zu äußern. Auch hier habe ich lange mit mir gerungen etwas dazu zu schreiben. Aber ich denke es ist wichtig sich zu äußern, zu positionieren, laut zu sein gegen (den) Krieg. Gleichzeitig habe ich mich in der ersten Woche ohnmächtig, hilflos und von Informationen überrollt gefühlt. Nach der ersten Ohnmacht und auch Angst kam auch der Drang etwas zu machen. Spenden, demonstrieren und darüber sprechen. Aber auch mal etwas anderes machen, versuchen sich abzulenken und auch im hier und jetzt zu leben und die kleinen, aber so wertvollen Dinge zu genießen.
Doch genau das Gefühl mit Informationen überflutet zu werden hat mich zum Nachdenken angeregt. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Krieg präsenter ist als andere Kriege, die ja nun auch in diesem Moment auf der Erde stattfinden. Manchmal werden sie anders genannt aber Krieg ist Krieg. Ich habe mich gefragt warum das so ist? Dieser Krieg ist nah und vor allem wird medial unfassbar viel berichtet.
Rassismus bei der Aufnahme von Geflüchteten zerreißt mich innerlich. Wo ist der Unterschied? Krieg ist Krieg und Flucht ist Flucht. Die Hilfsbereitschaft ist groß, größer als bei anderen Kriegen, anderen Geflüchteten!? Das macht mich traurig und wütend. Die große Hilfsbereitschaft, die wir gerade sehen ist toll und wichtig. Dennoch Frage ich mich: haben nicht alle Menschen, die vor (Waffen-) Gewalt fliehen müssen, diese Hilfe verdient?
100 Milliarden für die Bundeswehr. Aufrüsten statt Abrüstung – aber wir wollen doch gar keinen Krieg, oder doch? Wozu die ganzen Waffen, die am Ende nur noch mehr Leid anrichten? Für Pazifismus ist kein Platz, sagt Herr Habeck, ein Grüner. Ich bin fassungslos. Waffenembargo gibt es aufeinmal nicht mehr. Flüssiggas in Saudi Arabien kaufen – ist das ein friedlicheres Land als Russland (Stichwort Krieg im Jemen)?
Klimawandel
Und haben wir als Bürger*innen der Erde gerade nicht Wichtigeres zu tun als uns in diese gefährlichen Konflikte zu begeben? Gibt es wirklich nur die Alternative, wehrlos die Aggression geschehen zu lassen oder selbst in die Kriegslogik und die Aufrüstung einzusteigen? Der Klimaschutz wurde in den letzten Jahren als zu teuer betitelt und die erneuerbaren Energien nur sehr langsam ausgebaut. Hat es einen Krieg gebraucht um deutlich zu machen, wie fatal die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen ist?
Und damit bin ich nun auch bei meinem letzten Thema dem Klimawandel angelangt. Ein Thema was neben Corona oder dem Krieg medial an Bedeutung verliert, fast untergeht. Doch der Klimawandel ist existenzbedrohend, löst by the way Pandemien aus und in naher Zukunft werden die Menschen nicht mehr wegen Kriegen flüchten, sondern weil sie in ihrer Heimat nicht mehr leben können. Jetzt Krieg zu führen ist ehrlich gesagt, das Dümmste was man machen kann. Wir, als Menschheit, haben ganz andere und auf lange Sicht wesentlich bedrohlichere Probleme. Ich habe keine Lösung für den Krieg, aber ich finde es unerträglich zu sehen, wie Menschen sterben, fliehen und leiden müssen aufgrund von… ja von was eigentlich? Das macht mich so wütend und gleichzeitig liefern wir Waffen und die Waffenindustrie hat natürlich auch wieder Auswirkungen auf den Klimawandel. Der Krieg lässt den Klimawandel links liegen, überschattet alles und die Erde, die Menschen, WIR werden vergessen. Hilflos, ohnmächtig, wütend, traurig, ratlos – LOST!
Achtsamkeit – ein Weg?
Krieg kann nicht der Weg sein. Friede ist essentiell für die Herausforderungen der Zukunft. Von der Erde fliehen wird schwierig, denn eine zweite gibt es nicht. Gehen wir uns im Kleinen schon aufgrund von Impfungen an den Kragen wie wollen wir dann den Klimawandel und dessen unausweichlichen Folgen bewältigen?
Achtsamkeit ist mein Weg. Achtsam mit mir, achtsam mit meinen Mitmenschen und unser aller Umwelt. Meinen Beitrag leisten und jeden noch so kleinen Beitrag anerkennen. Empathie, Verständnis und auch kritisches Hinterfragen sind wichtige Grundpfeiler in meinem Alltag. Ein Versuch aus meiner Hilflosigkeit heraus etwas zu bewirken. Gemeinsam und miteinander statt gegeneinander. Verbindend statt spaltend. Diskutierend statt beleidigend. Achtsam statt rücksichtslos.
Für Mutter Erde und unsere Zukunft.
Machst du mit?
Grünsame Grüße
Nadja
Vielen Dank für diesen tiefgehenden und verbindenden Beitrag! Ich glaube, dass er auf den Schlüssel für all unsere Zukunftshoffnungen verweist. Wenn wir unsere Polarisierungen, Feindbilder, Verurteilungen, Kampf- und Ausgrenzungsreflexe hinter uns lassen können, steht uns die unermessliche Vielfalt, die Liebe und Kreativität der Menschheit zur Verfügung, um auf diesem Planeten ein Leben in Fülle im Einklang mit der Natur zu ermöglichen.
Thomas